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Syntynyt Lapissa – Geboren in Lappland: Interview mit Hebamme Isabel

Isabel ist Hebamme, Mutter und seit ihrer Teenagerzeit fasziniert von und verbunden mit Finnland. Regelmäßig besucht sie ihre zweite Heimat, doch im letzten Jahr brach sie zu keiner gewöhnlichen Reise auf, sondern hospitierte bei den finnischen Kolleginnen im Norden des Landes und wurde nicht nur vom Nordlicht willkommen geheißen. Wie es dazu kam und was sie erlebt hat, erzählt sie uns in diesem persönlichen Interview. 

Finnland faszinierte Hebamme Isabel schon als Teenie

Hebamme Isabel im Interview:

Hallo Kollegin! Wie schön, dass du uns von deinen Erlebnissen erzählen möchtest. Bevor wir dazu kommen sind wir aber zunächst gespannt auf deine Person. Wer bist du, was machst du, was gibt es spannendes über dich zu wissen und woher kommt sie, die Liebe zu Finnland?

Hallo, ich freue mich ebenfalls über dein und euer Interesse. Ich bin Isabel, 34 Jahre alt und Mutter von zwei Kindern. Ich tanze sehr gerne, betreibe schon seit meinem vierzehnten Lebensjahr orientalischen Tanz. Ansonsten lese ich viel, höre gern laute, schnelle Musik und bin dementsprechend auch viel auf Konzerten unterwegs. Finnland wurde mir dementsprechend als Teenie zunächst durch die Metalbands, die ich mochte, ein Begriff. Ich hatte das Glück, mit sechzehn in ein Jahr als Austauschschülerin starten zu können und suchte mir dafür dann Finnland aus. Wieso? Weil ich schon ein paar Wochen in England verbracht hatte und nun in eine andere Kultur eintauchen wollte. Auch die finnische Sprache gefiel mir. Und, dass man diesen verhältnismäßig nahen Nachbarn gar nicht besonders gut kennt. Es war ein aufregendes, spannendes, mitunter hartes, tolles Jahr, dem ich ganz viel persönliche Entwicklung verdanke. Ich versuche, so oft es geht wieder zurück zu reisen, “Familie” und Freunde zu besuchen und, wenn das nicht geht, wenigstens finnische Musik zu hören, Bücher zu lesen oder Filme zu schauen.

Eine tiefe Verbundenheit also. Und seit wann bist du Hebamme und wie arbeitest du?

Ich bin seit 2016 Hebamme und arbeite zurzeit angestellt im Kreißsaal. Eine Zeitlang habe ich zusätzlich Bauchtanz für Schwangere unterrichtet.

Und was hat dich dazu bewogen in die finnische Geburtshilfe schnuppern zu wollen?

Was in Finnland so los ist, interessiert mich seit dem Austauschjahr ja ganz generell. Es stellte sich mir also im Laufe meiner Hebammentätigkeit aus persönlicher und beruflicher Neugier heraus die Frage, wie denn eigentlich die Geburtshilfe in Finnland funktioniert. Passend dazu habe ich 2023 bei einem internationalen Hebammenkongress einige finnische Kolleginnen kennen gelernt, mit denen sich ein erster Austausch ergab. Bis März 2025 befand ich mich in Weiterbildung zur Stationsleitung. Im Rahmen dieser Weiterbildung sind im eigenen Krankenhaus, sowie in einem externen Klinikum 40 Stunden Hospitation zu leisten. Ich träumte also groß und dachte: Muss ich denn unbedingt in Deutschland hospitieren…? Bezahlt habe ich alles selbst, aber ich durfte die Dienstreise unternehmen und es war die beste Arbeitswoche seit langem.

Mensch, das ist echt interessant. Du bist ja nicht in irgendeinem Krankenhaus gelandet, sondern im Lapin Keskussairaala, also DEM geburtshilflichen Zentrum des Nordens/Lapplands, oder? Warum gerade Rovaniemi?

Na, weil es eben DAS Zentrum ist. (Sie lacht) Während meiner Recherchen habe ich mir einen Überblick verschafft, wo es in Finnland Geburtshilfe gibt und wie sich die Kliniken auf ihrer Website präsentieren. Ich wäre auch neugierig gewesen, in den riesigen Betrieb der Uniklinik in Helsinki zu schnuppern – mit rund 9.000 Geburten im Jahr! Rovaniemi war allerdings mein Favorit, eben weil es ein so großes Gebiet allein abdecken muss. Dadurch ist ja zu erwarten, dass das LKS ganz besonders auf gut durchdachte Strukturen und Ressourcen angewiesen ist.

Zahlen und Fakten:

  • Geburten im LKS: ca. 1000/Jahr
  • Sectiorate: 20% (ca. 17% in ganz Finnland im Vergleich zu über 30 % Geburten per Kaiserschnitt in Deutschland)
  • Ungeplant außerklinische Geburten (2023): Nur sechs!
  • Längste Anreise: rund 500km von Nuorgam, gute sechs Stunden Fahrt – allerdings nur bei günstigen Wetterbedingungen… 
  • Strecke von Rovaniemi zur nächsten Uniklinik: 220km
Lapin Keskussairaala (LKS) in Rovaniemi

Auf jeden Fall spannend, ja. Bevor du uns von deinen Erlebnissen erzählst, stelle ich mir die Frage, ob du aus deiner Beobachtung heraus sagen kannst ob und wenn ja, wie sich der Umgang mit Schwangerschaft, Geburt und Elternschaft von unserem Umgang mit diesen Themen unterscheidet? Sowohl medizinisch, als auch gesellschaftlich.

Darüber könnte ich vermutlich stundenlang erzählen. Ich versuche, es allgemein zusammenzufassen, mit Hinweis darauf, dass mein Blick natürlich subjektiv gefärbt ist. Tatsächlich gibt es für mich einige gravierende Unterschiede. Das geht schon ganz banal mit der Schwangerenvorsorge los. Finnische Frauen erhalten zum Beispiel nur zwei Ultraschalluntersuchungen statt drei wie in Deutschland – mit der Option, eine Feinsono dazu zu wählen. Vorsorge ist – inklusive Ultraschall und sämtlicher anderer Untersuchungen – fest in Hebammenhand. Wer keine Auffälligkeiten zeigt, sieht die ganze Zeit keinen Arzt und die Menschen sagen dazu selbst: “Wieso sollte man zum Arzt gehen, wenn es keine Probleme gibt?“  Es herrscht in Finnland ein gewisser Pragmatismus, der mir sehr gut gefällt. Im Gegensatz zu meinem Erleben in Deutschland, wo jedes Thema ganz viel diskutiert, abgesichert, zerdacht wird, darf manches im Norden noch „einfach sein“. Das bedeutet, Frau ist erstmal „einfach“ schwanger und bis das Gegenteil bewiesen ist, wird auch von einem gesunden Verlauf ausgegangen. Kinder dürfen „einfach“ Kinder sein und werden im gesellschaftlichen Leben ganz selbstverständlich mit eingeplant. Es ist meist überhaupt keine Frage, dass Kinder andere Bedürfnisse haben als Erwachsene und dass man diese unterstützen und fördern muss, immer unter der Prämisse: Gleiches Recht für alle. Ich habe das Gefühl, dass finnische Familien daher auch sorgen-ärmer in ihre neue Rolle finden. Es ist natürlich bestärkend zu wissen, dass ein starkes Netz die Familie trägt und man sich um Dinge wie Kitaplätze, Bildung und vieles mehr, erstmal deutlich weniger Sorgen machen muss als es hierzulande der Fall ist. Ganz subjektiv scheint mir auch, dass den Eltern sehr bewusst ist, wie verdammt anstrengend Geburt und Wochenbett werden und dass dies auch „einfach“ erstmal so sein darf. Was es allerdings nicht gibt, sind die vielen Hausbesuche im Wochenbett. Die Wochenbettbetreuung läuft über die Polikliniken oder wohnortnahe Gesundheitszentren („Neuvola“).

Hebamme beim Ultraschall

Jetzt bin ich natürlich gespannt, wie dein Einsatz dann für dich war. Also wie lief es ab, was hat dich vielleicht überrascht, erzähl mal 🙂

Ich habe in der Hospitationswoche jeden Tag anders verbracht, um einen möglichst breiten Einblick in den Arbeitsalltag zu bekommen. „Meine“ Osasto 6 (Station 6) umfasst nicht nur den Kreißsaal, sondern auch die Wochenstation, eine kleine Neonatologie, Polikliniken für Gynäkologie, Schwangerenvorsorge, Stillberatung und ein SERI-Zentrum (Erstanlaufstelle für Opfer von sexueller Gewalt; bietet medizinische und psychologische Erstversorgung, führt Gesundheits-, und Schwangerschaftstests durch und leitet an entsprechende Hilfen weiter). Mit Ausnahme der Neonatologie und der gynäkologischen Sprechstunden wird der gesamte Bereich von einem großen Hebammenteam betreut. Die Hebammen rotieren durch die einzelnen Bereiche und haben dadurch einen sehr abwechslungsreichen Arbeitsplatz. Man kann dabei auch Vorlieben äußern oder mit anderen Kolleginnen den Dienst tauschen. 

Blick in einen der Kreißsäle

Trotz anfänglichen Sorgen auf beiden Seiten fand die Kommunikation übrigens die ganze Woche ausnahmslos auf finnisch statt. Ich bin ein bisschen stolz darauf und vor allem dankbar, denn das hat es leichter gemacht, für den kurzen Zeitraum einen „Platz“ im Team zu bekommen. Die deutsche Hebamme, die über alles staunt, gehörte am Ende einfach irgendwie dazu. (Sie schmunzelt) 

Hebammenkaffeepause mit Aussicht

Mich hat jeden Tag wieder beeindruckt, wie souverän und autark die Hebammenkolleginnen den Betrieb am Laufen halten. Auch hier im Krankenhaus ist der Tätigkeitsschwerpunkt deutlich auf die Hebammen (und, in anderen Bereichen, auf die Pflegeberufe) verlagert. Es ist auch in der Notaufnahme gar nicht so ungewöhnlich, keinen Arzt zu treffen weil es sich um Beschwerden handelt, die eine Pflegekraft allein handeln kann. Im Umkehrschluss führt dies natürlich dazu, das die ärztlichen Kollegen deutlich effektiver und vor allem entspannter arbeiten können, weil sie sich nicht um jede Blutentnahme und jedes Wehwechen kümmern müssen. Der Pflege- und Funktionsdienst wiederum gewinnt dadurch ganz automatisch ein anderes Ansehen. Interessant finde ich auch, dass es im finnischen Gesundheitssystem die Unterscheidung zwischen „Krankenpflegern“ und „Gesundheitspflegern“ gibt. Letztere haben Zusatzqualifikationen, welche es ihnen ermöglichen auch in der Prävention tätig zu sein. 

Die Mumins sind überall – auch auf der Bereichsübersicht im Krankenhaus. “Synnytysali” – “Kreißsaal”.

Insgesamt habe ich den Klinikbetrieb als sehr effektiv, materiell äußerst gut ausgestattet und strukturell durchdacht erlebt, es war ein äußerst positives Beispiel dafür, wie Digitalisierung und Zentralisierung der Krankenhäuser gut funktionieren kann. Gleichzeitig schafft es die Osasto 6, mit Kleinigkeiten eine warme, herzliche Atmosphäre zu schaffen. Ein Beispiel? Nach der Geburt bekommen die Eltern ein schön hergerichtetes Frühstückstablett direkt in den Kreißsaal – um „den Geburtstag zu feiern“. Auf der Wochenstation können Frauen sich selbst saubere Nachthemden und Morgenmäntel holen, außerdem gibt es eine große Küche, in der man Gerätschaften frei nutzen darf. Der große Kühlschrank ist frei zugänglich und enthält immer eine Grundausstattung an Brot, Käse, Milch, Saft und Obst. Was für einfache Kleinigkeiten, die so viel zum Wohlbefinden und zur Selbstständigkeit der Familien beitragen! Auch vom Stellenschlüssel können wir nur träumen. Bei voller Belegung der Wochenstation beispielsweise betreut eine Hebamme maximal 4 Frauen (ggfs. samt Neugeborenen).  

Fairerweise muss ich natürlich sagen, dass es auch in Finnland Kreißsaalschließungen und entsprechende Proteste dagegen gibt. Bei der niedrigen Bevölkerungsdichte stellt sich immer wieder die Frage nach dem besten Kompromiss zwischen Versorgungsdichte und Kosteneffizienz.

Perfekt ist es wohl nirgends, aber umso wichtiger ist es ja sich auszutauschen. Toll, dass du so viel neue Erfahrungen sammeln konntest. Ich muss es natürlich fragen: Gibt es einen besonders schönen oder prägenden Moment, den du mit uns teilen kannst und magst?

Da gibt es gleich mehrere Momente. Der erste waren intensive Nordlichter direkt im Stadtzentrum, gleich an meinem Ankunftstag. Was für ein „Willkommen“!

Das Nordlicht tanzt zur Begrüßung über Rovaniemi

Der zweite war das Miterleben einer Geburt und die schöne Ruhe, die in der Geburtsbetreuung herrschte. Außer bei Pathologien ist kein Arzt bei der Geburt anwesend, dafür kommt eine zweite Hebamme dazu. Die Nabelschnur darf auspulsieren, Namensbändchen und Konakion (Anmerkung: Konakion ist Vitamin K und wird auch in Deutschland nach der Geburt verabreicht) bekommt das Kind auf Mutters Brust. Es war so herrlich unaufgeregt und auch hier merkt man – eine vernünftige personelle Besetzung muss einfach die Grundlage sein, auf die man sich bei Eintreffen im Kreißsaal verlassen kann.

Zu guter Letzt durfte ich live erleben, wie die langen Anfahrtswege gehandelt werden. Im Bedarfsfall reist die Hebamme nämlich per RTW oder Hubschrauber zu weit entfernten Frauen, wenn eine ungeplante Geburt im Auto oder zuhause „droht“.  So sind zum Beispiel einige Monate zuvor Frühchen-Zwillinge mit Hilfe einer „meiner“ Hebammen und einer Kinderkrankenschwester im Rettungswagen geboren, in Rovaniemi stabilisiert und anschließend in die nächste Uniklinik (Oulu) verlegt worden. Beide Kinder sind inzwischen stabil und unauffällig.

Hebamme auf dem Weg zum Helikopter

Auch Verlegungen von Schwangeren werden grundsätzlich von Hebammen begleitet und all diese Sondereinsätze übrigens sehr gut vergütet, sofern sie nicht innerhalb des geplanten Dienstes stattfinden. 

Isabels Fazit zu ihrer Zeit in der Geburtshilfe in Lappland:

Was konntest du für dich persönlich mitnehmen aus dieser Erfahrung? Beruflich uns als Mensch?

Beruflich habe ich neue Ideen und Impulse bekommen, wie eine Zukunft der Geburtshilfe mal aussehen könnte. Mein berufliches Selbstbewusstsein ist definitiv gewachsen, auch wenn mich die Erfahrung wahrscheinlich für deutsche Krankenhäuser ein wenig „verdorben hat“. (Sie grinst) Einiges handwerkliche habe ich ebenfalls mitgenommen, wie eine andere Möglichkeit, den Dammschutz (Anmerkung: Geburtshilflicher Handgriff zum Schutz des Dammgewebes) zu leisten und das „Quaddeln“ (Anmerkung: Methode zur Schmerzlinderung unter der Geburt), das ich seither gerne anwende. 

Menschlich finde ich, ist es immer und für jeden empfehlenswert, allein zu reisen, sich ins Unbekannte, Herausfordernde zu werfen. Das erdet und tut der Selbstsicherheit gut. 

Was glaubst du könnten wir deutschen Hebammen uns vielleicht von unseren finnischen KollegInnen abschauen? Gibt es da etwas bestimmtes?

Lasst euch nicht klein halten, traut euch was Ungewöhnliches und schaut wann immer möglich über den Tellerrand. Besucht internationale Kongresse, vernetzt euch wo immer es geht. 

Fotokörbchen für das Baby. “Syntynyt Lapissa” – “Geboren in Lappland”

Hand aufs Herz? Wärst du gerne geblieben?

Ja. Sofort und ohne zweimal nachzudenken.  

Gibt es noch etwas, dass du mich/uns noch wissen lassen möchtest?

Nur, dass man immer neugierig auf alles bleiben sollte. Vielen Dank für die Gelegenheit, gleich über zwei meiner Lieblingsthemen zu erzählen! Bei Fragen gerne her damit. 

Vielen Dank Isabel, dass du uns mitgenommen hast nach Lappland und von dir und deinen Erlebnissen und Eindrücken erzählt hast. Ein spannender Einblick, nicht nur für Hebammen, aber ganz besonders für mich, als Kollegin, die ebenfalls ein Stück ihres Herzens „dort oben“ gelassen hat. Kiitos paljon und für deinen weiteren Weg, alles alles Liebe!

Wenn ihr Fragen an Isabel oder zu Ihrer Geschichte habt, dann meldet euch, ich leite es gerne weiter. 

 Fotos im Beitrag: Hebamme Isabel

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